© Dirk Siebers M.A. Prähistoriker
Sievekingsallee 109 I.
20535 Hamburg
Vortrag vom 10. 07. 2000 an
der Universität Hamburg im Kolloquium zur Geschichte der
Naturwissenschaften, Mathematik und Technik
Archäologie und
Chemiegeschichte
Guten Abend meine sehr geehrten
Damen und Herren, ich freue mich Sie heute zu einem Vortrag so
zahlreich begrüßen zu dürfen.
Der Beitrag der Chemie und der anderen Naturwissenschaften für
die archäologische Forschung ist in allen Bereichen groß, sei es
in den naturwissenschaftlichen Datierungsverfahren, der Analyse
von Fundmaterialien sowie deren Konservierung. Was aber ist der
Beitrag der Archäologie zur Erforschung der Geschichte der
Chemie, der anderen Naturwissenschaften und der Technik bzw.
Technologie?
Für welche Fragestellungen können Sachquellen und der Apparat
der Methoden und Techniken der archäologischen Wissenschaften
herangezogen werden?
Welchen Gebrauch macht die Geschichte der Naturwissenschaften
heute von den Ergebnissen der archäologischen Forschungen?
Wenn wir von Archäologie sprechen, müssen wir unterscheiden
zwischen der Archäologie als Gesamtheit der Wissenschaften von
den frühen Kulturen und der klassischen Archäologie, die sich
vor allem mit der Kunst und Architektur des griechischen und römischen
Bereichs von dem Jahrtausend von etwa 600 vor bis 400 nach
Christus befasst.
Die archäologischen Disziplinen unterteilen sich zumeist räumlich
oder auch zeitlich. Die Vor- und Frühgeschichte erforscht das
Kulturverhalten früher Menschen anhand der noch vorhandenen Überreste
und Spuren dieses Kulturverhaltens. Ursprünglich in und für
Europa entwickelt erstreckt sich die Forschung nun weltweit.
In den letzten Jahren tritt immer mehr die Wechselwirkung zwischen
Mensch und Umwelt in den Vordergrund der Forschung.
Wie ist die Einwirkung des Menschen auf seine Umwelt gewesen?
War sie auch früher schon zerstörerisch?
Wenn auch nur lokal.
Und wie hat die jeweilige Umwelt das Kulturverhalten der Menschen
beeinflusst?
So lassen sich moderne archäologische Forschungen zumeist unter
die Schlagworte: Landschaftsentwicklung, Besiedelungsgeschichte
und Kulturverhalten fassen. Wobei die Landschaftsentwicklung
sowohl die natürlichen Umweltveränderungen im Laufe der Zeit wie
auch die menschlichen Eingriffe untersucht. Die
Besiedelungsgeschichte beinhaltet großflächige
Migrationsbewegungen ebenso wie die kleinräumige Verteilung und
deren Änderung im Laufe der Zeit. Das Kulturverhalten des
Menschen umfasst alle Lebensäußerungen die nicht streng
biologisch determiniert sind und in deren Ausgestaltung er mehr
oder minder frei ist. Einschränkungen liegen auch hier z.T. in
der Biologie bzw. Physiologie des Menschen. Zum Teil ergeben sie
sich durch die in einer Gruppe oder Bevölkerung ständig geübte
Praxis. Ersteres ist z.B. die Notwendigkeit von angepasster
Kleidung um in einem eiszeitlichen Europa überleben zu können.
Letzteres ist z.B. die Ausprägung von bestimmten Einzelheiten bei
der Grablegung verstorbener Gruppenmitglieder. Oder um im Bereich
der Kleidung zu bleiben, bestimmte Ausprägung von Kleidungsstücken
oder Verzierungen daran für bestimmte soziale Stellungen oder
geschlechtsspezifisch.
Ein wichtiger Bereich des Kulturverhaltens sind die bekannten bzw.
benutzten Technologien und Techniken.
Für die ältesten Zeiten der Menschheitsgeschichte ist dieser
Bereich auch der für unsere Forschungen zugänglichste. Die sog.
Steinzeiten wurden nach der Hauptfundkategorie so benannt. Stein
und damit auch aus ihm hergestellte Werkzeuge und Geräte sind
sehr gut erhaltungsfähig so dass wir sie auch heute noch
auffinden können. Zudem sind Steingräte nicht recyclingfähig,
bei manchen Steingeräten können die Schneidkanten ein oder
mehrmals nachgeschärft werden, danach sind die Geräte
unbrauchbar und werden weggeworfen. In Gegenden mit geeignetem
Rohmaterialvorkommen war es einfacher, sich bei Bedarf die Geräte
immer wieder neu herzustellen als sie auf Jagdzügen oder
Wanderungen mit sich herumzuschleppen, so dass auch bei sehr
geringer Besiedelungsdichte im Laufe der Zeit sehr viele
Steinartefakte hergestellt wurden und uns bis heute überliefert
sind. Die nächst häufige Fundgattung aus diesen Zeiten sind
fossilisierte Knochen, als Reste von Jagdbeute, teilweise zu Geräten
bearbeitet oder auch Überreste der Menschen selbst. Anderes
organisches Material ist nur ausnahmsweise bis zum heutigen Tag
erhalten.
Da für seine Erhaltung ganz besondere Umstände eintreten und
sich bis heute erhalten mussten. So z.B. eine schnelle Einlagerung
unter Luftabschluss, z.B. unter Wasser oder vergraben, bei einer
Einlagerung werden die Materialien reduziert bis sich ein
Gleichgewichtszustand mit dem Umgebungsmilieu einstellt. Alle Änderungen
dieses Milieus verursachen weitere Reduktionen des Materials,
daraus folgt: je gleichmäßiger das Milieu und je weniger Veränderung
desto länger bleiben die Materialien erhalten. Im allgemeinen heißt
das, je tiefer etwas lagert desto länger bleibt es erhalten und
desto schwieriger ist es für den Forscher aufzufinden. Solche
Fundplätze werden nur zufällig bei großen Baumaßnahmen oder
bei der Rohstoffgewinnung durch Tagebau angeschnitten, da die
Kosten einer systematischen Suche nach derartigen Fundplätzen
nicht aufzubringen wären.
Wenn wir die materielle Ausstattung heute lebender Ethnien mit
einfacherer Technologie, fälschlich häufig als Naturvölker oder
heutige Steinzeitmenschen bezeichnen, als Beispiel für frühere
Verhältnisse nehmen stellen wir fest, dass nur ein geringer Teil
dieser materiellen Ausstattung aus Stein besteht, der überwiegende
Teil aus allen möglichen organischen Material, wie etwa Holz,
Bast, Rinde, anderen Pflanzenfasern und -teilen, Häuten, Haar und
Leder, Knochen und Horn, Geweih oder Fischgräten, Muscheln, je
nach den in ihrem Lebensraum verfügbaren Ressourcen. Alle diese
Materialien werden durch die im Boden ablaufenden chemischen und
biologischen Vorgänge wesentlich leichter zerstört als Stein, so
dass wir nur diesen heute noch auffinden können. Stein eignet
sich besonders um daraus schneidende und spanabhebende Werkzeuge
herzustellen und wo seine im Vergleich zu organischen Materialien
höhere Dichte vorteilhaft ist.
OHP Folie - Steinring
Gesetzt den Fall wir fänden bei einer Ausgrabung oder Geländebegehung
so einen Steinring, wie würden wir seine Funktion interpretieren?
Zuerst, vor einer Interpretation steht die formale Analyse und die
Auswertung des Befundes, d.h. des Zusammenhanges dieses Artefaktes
mit anderen bzw. alle Umstände die mit diesem Fund zusammengehören.
Also etwa seine Orientierung im Raum, Einlagerung in eine
bestimmte Schicht, die Frage: kommt das Material des Artefaktes in
der Nähe des Fundorts vor?, usw. Die formale Analyse bestimmt
Material, Größe und Gewicht, Herstellungs- und Gebrauchsspuren,
alles was man messen und objektiv wahrnehmen kann. So könnte man
z.B. versuchen festzustellen, ob das `Loch im SteinA natürlich
ist - dann wäre es vermutlich unregelmäßig - oder ob es
artifiziell ist, z.B. anhand von Bearbeitungsspuren und dann
weiter verfeinert, von einer Seite ganz durchgebohrt oder von
beiden Seiten zur Hälfte. Ohne eine Funktionsinterpretation
vorzunehmen, ließe sich technikgeschichtlich bereits Aussagen,
dass man in der Lage war, Bohrungen in Stein vorzunehmen. Hier ließen
sich verschiedene Hypothesen bilden, wie diese Bohrungen durchgeführt
wurden, die mittels Experimenten überprüft werden könnten. Ein
Beispiel wäre die Hypothese, man hätte mit einem Röhrenknochen
und feinem Sand einen Kern aus dem Stein herausgebohrt. Eine
andere, man hätte mit einem massiven Rundholz und Sand ein Loch
hinein geschliffen. Fände man den passenden Bohrkern zu diesem
Stein, könnte man ebenfalls Aussagen wie das Loch in den Stein
kam, und das die Bohrung mit größter Wahrscheinlichkeit am
Fundplatz ausgeführt wurde.
Doch zurück zur funktionalen Deutung: Da wir heute keine
Werkzeuge aus Stein benutzen, fällt also die Methode des
aktualistischen Vergleiches weitgehend aus. In unserer materiellen
Ausstattung gibt es keine künstlich so geformten Steine mit einer
spezifischen Funktion. Ein weiterer methodischer Ansatz wäre
Hypothesenbildung aus einem allgemeinen oder speziellem
Kulturmodell heraus bzw. für dieses GEDANKENEXPERIMENT einfach
aus unserem individuellen Vorwissen. Vermutlich kennen wir alle
irgendwelche Bilder vom keulenschwingenden Urmenschen, sei es aus
Film und Fernsehen, Cartoons und Bildwitzen oder mehr oder weniger
alten populären oder auch populärwissenschaftlichen
Publikationen. So wäre eine häufig geäußerte Hypothese
vermutlich `dieses ist (oder besser: könnte sein) ein Teil einer
Waffe, ein KeulenkopfA. Andere würden eine friedlichere
Interpretation wählen `ein Hammer oder SchlegelA. Wer einmal in
einem Museum die Rekonstruktion eines Webstuhles gesehen hat, würde
vielleicht eine Analogie zu den Gewichten sehen mit denen die
Kettfäden gestrafft werden. Andere würden an Gewichte zur
Beschwerung von Netzen zum Fischfang denken. Vermutlich würden
sich andere Beispiele in unserem Kulturkreis schwerlich finden
lassen. Wenn man keine gescheiten Ideen hat, ist es auch eine häufig
geübte Praxis eine unbekannte `kultischeA Bedeutung zu
postulieren (ohne eine stichhaltige oder auch nur wahrscheinliche
Begründung). Ein weiterer methodischer Ansatz ist der
ethnographische Vergleich, bei dem wir Funde mit der materiellen
Kultur der nicht europäischen Kulturen vergleichen und siehe da,
wir finden eine weitere Verwendungsmöglichkeit, nämlich als
Beschwerung eines Grabstocks.
OHP Folie Grabstock
Dieses Gerät wird als eigenständiges Werkzeug in unserem
Kulturkreis nicht benutzt, da wir keinen saisonalen Hackbau auf
durch Hitze verkrusteten Böden betreiben und für das Legen größerer
Samenkörner in unseren weichen Böden andere Ackergeräte
benutzen. Trotzdem ist die Technik harte Böden z.B. mit Stößen
einer schweren Eisenstange aufzubrechen, auch bei uns bekannt und
genutzt. Je größer die Masse des Werkzeuges, desto leichter
dringt die Spitze in den harten Boden. Steht nur Holz bzw. Knochen
für die Spitze des Stabes zur Verfügung, bietet sich eine
Beschwerung mittels Steingewicht an.
Eine sichere funktionale Zuordnung ist nur im Zusammenhang mit dem
Befund möglich. Für die verschiedenen Möglichkeiten der Deutung
lassen sich bestenfalls durch logische Diskussion grobe
Wahrscheinlichkeiten ableiten. Bei Deutung als Waffe: lässt das
Gewicht ein schnelles Schwingen zu? lässt sich die `KeuleA gut über
längere Zeit tragen? Wird das Material einen heftigen Aufprall überstehen?
Bei einer Deutung als Schlegel wird die Stabilität die Hauptrolle
spielen bzw. die Frage: Lohnt sich der Herstellungsaufwand im
Vergleich zur erwarteten Gebrauchsdauer? Bei der Deutung als
Beschwerung gilt das gleiche: Lohnt sich der Fertigungsaufwand und
was soll es beschwert haben? Gab es größere Gewässer, die mit
einem Netz befischbar gewesen wären? Gab es schon eine weit
entwickelte Textiltechnologie mit Webstuhleinsatz?
Die Frage: Gab es schon Netze?, würde ich auch für das sog. Paläolitikum
nicht stellen wollen, eben aufgrund der Erhaltungsbedingungen.
Sind uns zur Technologie dieser Zeit nur sehr rudimentäre
Aussagen möglich? Dennoch zeigt die Forschung immer deutlicher,
dass auch in dieser Zeit mehr als nur grobe Steingeräte vorhanden
waren.
Ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen.
Anhand von Einzelmerkmalen und Merkmalsgruppen an einzelnen
Artefakten und ihrer Vergesellschaftung werden archäologische `GruppenA
bzw. `KulturenA oder `IndustrienA definiert und mehr oder minder
stillschweigend ethnisch gedeutet, d.h. ein bestimmtes Geräteinventar
wird einer bestimmten Gruppe von Menschen zugeordnet und als räumlich,
zeitlich und kulturell gleich bzw. ähnlich gesetzt. Ein solches
Verfahren ist aus verschiedenen Gründen problematisch und seine
unreflektierte Anwendung kann schnell zu falschen bzw. unsicheren
Ergebnissen führen.
Der erste Unsicherheitsfaktor ist, dass die Steinwerkzeuge nicht
nach einer allgemein verbindlichen Norm hergestellt wurden,
sondern von Individuen aus lokalen Rohstoffen zu einem bestimmten
Zweck.
Wenn es z.B. in einem Gebiet keine zugänglichen Steinvorkommen außer
Flußgeröllen gibt, kann man keine faustkeilähnliche Geräte
herstellen, da dazu plattiges Material hinreichender Größe
notwendig ist. Man wird nur Chopper oder Chopping-Tools daraus
herstellen können, Typen, die gemeinhin mit den ältesten
menschlichen Werkzeugen in Verbindung gebracht werden, aber beim
Fehlen anderer Rohstoffe wohl immer wieder hergestellt worden
sind.
Aus der Vielzahl dieser Geräte und dem dabei anfallenden Abfall
definiert der Archäologe dann für den jeweiligen Fundplatz oder
sogar darüber hinaus `typischeA Geräte oder `GerätetypenA mit
bestimmten Merkmalen oder Merkmalsgruppen. Hierbei fließen häufig
subjektive Beurteilungen bei der Abgrenzung eines Gerätes als `typischA
oder nicht? ein. Meist wird nur dieser Teil des Fundgutes
publiziert oder auch nur eine Auswahl davon, die dem Ausgräber
besonders typisch erscheinen. Das Grundproblem ist, dass wir so
bestimmte Werkzeugsätze oder Werkzeuge kulturell, räumlich oder
zeitlich deuten. Greifen wir hier einmal zum Mittel des
aktualistischen Vergleichs und stellen uns vor auf einer Baustelle
bricht der Rohbau zusammen und würde aufgegeben werden. Man schüttet
die Baugrube mit dem eingestürzten Keller und Erdgeschoss zu und
dieser Befund bleibt erhalten bis spätere Archäologen mit einer
Ausgrabung beginnen. Im ehemaligen Erdgeschoss finden sie den
Werkzeugsatz eines Maurers, typischerweise in einem schwarzen
Plastikbaueimer mit Mörtelspuren. Es sind dies Fäustel, Meißel,
Flach- und Spitz, verschiedene Kellen, Trapez- und große Mörtelkelle,
vielleicht ein Fugeneisen, Lot, Zollstock, Schnur und Eckwinkel,
ein paar Nägel, ein Putzglätter, ein Quast, - na - vielleicht
sind es doch lieber zwei Eimer.
Im Keller war schon der Elektriker am Werk, man findet seinen
Stahlblechwerkzeugkasten mit Schraubendreher, Zangen, Messgeräten,
kleiner Säge, usw. und würde diese unterschiedlichen Gerätesätze
nun zeitlich oder kulturell deuten statt funktional wie es richtig
wäre. Bei der geschilderten Befundsituation in einem eingestürzten
Gebäude ist es leicht und einsichtlich auf eine zeitliche und
kulturelle Deutung zu verzichten, da es sich ja um einen
geschlossenen Befund handelt, d.h. hier sind alle Funde zum
Zeitpunkt der Niederlegung gleichzeitig. Der Begriff des
`geschlossenen FundesA wurde von Oskar Montelius Ende des 19.
Jahrhunderts eingeführt. Um bei diesem Beispiel zu bleiben, wenn
frühe Menschengruppen nur saisonal sesshaft waren oder von einem
permanenten Siedlungsplatz gelegentlich oder periodisch andere Plätze
für eine Sondernutzung, wie etwa Jagd auf wanderndes Wild oder
Fischfang von Wanderfischen wie etwa Lachsen, ausübte, finden
sich jeweils die Werkzeuginventare der jeweiligen Tätigkeit am
jeweiligen Platz. Auch heute werden sich die Werkzeuginventare,
sagen wir eines Schlossers, unterscheiden, die wir in seiner
Werkstatt (stationäre Großgeräte und seltener benutzte
Werkzeuge neben den Standardwerkzeugen in breiter Auswahl) finden,
von denen unterscheiden, die er in seinem persönlichen
Werkzeugkasten auf Montage oder im Reparaturservice mit sich führt
(häufig gebrauchte Standardwerkzeuge) und denen, die sich in
seinem Privathaushalt finden (hier auch z.B.
Holzbearbeitungswerkzeuge oder je nach Hobby solche zum Malen oder
zur Lederbearbeitung). Diese Inventare werden von einer einzigen
Person zwar nicht gleichzeitig, aber doch zeitnah und abwechselnd
benutzt. Vergleicht man nun weiterhin z.B. die persönlichen
Werkzeugkästen von Personen gleicher Berufe, werden sich auch
hier gravierende Unterschiede finden, die eher auf
Spezialisierung, persönlichen Vorlieben und Erfahrungen als in
kulturellen Unterschieden liegen. Natürlich gibt es regionale
Unterschiede in bestimmten Geräten z.B. den berliner und den
rheinischen Maurerhammer, und sie lassen sich auch zur
Unterscheidung heranziehen, nur muss methodisch sauber und
nachvollziehbar an hinreichend vielen Fundstellen die Unterschiede
nachgewiesen werden um allgemeinverbindliche Aussagen zu treffen.
Hierbei wird es vor allem um großräumige und zeitlich grobe
Abgrenzungen gehen.
Bei der Analyse und Interpretation solcher Werkzeuge zahlt es sich
aus, wenn man über entsprechende praktische Erfahrungen verfügt.
ALFRED RUST , der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte,
prägte den Begriff der `Heidelberger KulturA für bestimmte
Steingeräte, die er mit dem Homo erectus in Verbindung brachte,
von dem 1905 in Mauer bei Heidelberg ein Unterkiefer in einer
Kiesgrube gefunden wurde. Die Geräte, sog. Nasenschaber und
Querhobel, zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur einen kleinen
Wirkteil und einen großen Griffteil haben und jeweils nur für
den links- bzw. rechtshändigen Gebrauch geeignet sind. Sie eignen
sich zur Bearbeitung von Knochen, Geweih und Holz.
OHP Folie:
RUST war gelernter Elektriker und kam über VHS-Kurse, die von dem
Hamburger Prähistoriker SCHWANTES gehalten wurden, zur archäologischen
Forschung. Bekannt ist RUST vor allem durch seine Ausgrabungen im
Ahrensburger Tunneltal, wo er Lagerplätze jungpaläolithischer
Rentierjäger untersuchte. Aber er fuhr auch mit dem Fahrrad bis
nach Syrien um dort archäologische Ausgrabungen durchzuführen,
z.B. in der Höhle von Jabrud, wo er unter anderem - was für die
Chemiegeschichte interessant ist - den wohl zweitältesten
bekannten Holzteer fand. Insbesondere seine „Heidelberger
Kultur“ wurde in der Fachwissenschaft weitgehend abgelehnt und
erst in den letzten Jahren zögerlich eingestanden, dass es sich
um echte Artefakte handelt. Obwohl schon immer bekannt war, dass
er bei seinen Forschungen während der Zeit des
Nationalsozialismus auch Personal entsprechender NS-Organisation,
wie etwa den Reichsarbeitsdienst einsetzte, wurde dieser Aspekt
seines Forscherlebens zu seinem 100. Geburtstag von der Presse
zusammen mit unbewiesenen Spekulationen im Hinblick auf den Raub
von Kulturgütern in den von Deutschland besetzten Gebieten wieder
`hochgekochtA, so dass ein geplanter öffentlicher Festvortrag
leider abgesagt wurde. Durch RUST>s handwerkliche Tätigkeit
konnte er die `Heidelberger GeräteA als Werkzeuge identifizieren
und ihre technischen Vorteile erkennen. Durch die Beschaffenheit
des hand angepassten Griffteils und der Winkelstellung der
Schneidkante kann die Körperkraft gut auf das Material einwirken
ohne dass man Gefahr läuft, sich Splitter des Werkstoffes in die
Haut zu reißen oder mit der Hand gegen das Werkstück zu stoßen.
In jüngeren Zeiten finden sich vermehrt kleinere geschärfte
Feuersteinstücke, die vielleicht für ähnliche Zwecke in einen
Griffteil aus organischem Material eingeklebt wurden. Diesen Griff
konnte man beliebig wieder verwenden, als Klebstoff diente z.B.
der schon erwähnte Holzteer, von dem ein weiteres altes Stück
bei Königsaue zusammen mit Mousterien Artefakten gefunden wurde,
welches noch den Negativabdruck eines Steinartefaktes aufwies.
Ein weiteres Beispiel aus jüngerer Zeit möchte ich Ihnen nun
vorstellen:
Im Rahmen des Forschungsprojektes `Landschaftsentwicklung und
Besiedelungsgeschichte des Stader RaumesA wurden zwischen 1983 und
1998 archäologische Untersuchungen von der Bodendenkmalpflegebehörde
und der Universität Hamburg durchgeführt. Wobei Professor HELMUT
ZIEGERT hauptsächlich Fragestellungen im Bereich der Elbmarsch
untersuchte. Neben dem ältesten Deich Norddeutschlands (um 800
nChr.), der zwar technik-geschichtlich als Technokomplex aus
mehreren zwingend zusammenhängenden Techniken und Technologien
auch in diesem Rahmen sehr interessant ist, möchte ich nur einen
Einzelaspekt aus der Zeit weit vor dem ersten Deich hier
behandeln.
Auf dem Fundplatz der ehemaligen Siedlung in Drochtersen Ritsch
fanden sich Reste eines verbrannten Einbaumes. Aus zeitnahen römischen
Quellen wissen wir von solchen Fahrzeugen in diesem Gebiet. Als
Experiment ließ Professor HELMUT ZIEGERT einen Einbaum annähernd
gleicher Größe aus einem Buchenstamm nachbauen. Wir arbeiteten
mit einfachen, modernen Handwerkszeug, vor allem mit Stechbeiteln.
Neben einer Abschätzung des Arbeitsbedarfes sollten die Schwimm-
und Fahreigenschaften im Experiment überprüft werden. [DIAS]
Zwei weitere Beispiele für technikgeschichtlich interessante
Forschungen, diesmal aus einer ganz anderen Weltgegend, möchte
ich Ihnen ebenfalls kurz vorstellen:
Professor ZIEGERT führt seit langer Zeit Forschungen in der
Sahara, vor allem in dessen libyschen Teil durch. Neben einer
Technik zur Salzverhüttung, auf die ich später noch eingehe,
untersuchte Professor ZIEGERT Bewässerungssysteme, die sog.
Foggharas. Ich begleitete Professor ZIEGERT auf mehreren dieser
Forschungsreisen und führte dort verschiedene Untersuchungen
durch, darunter auch an einem Fogghara.
Weiter untersuchten wir einen Siedlungsplatz früher Menschen an
einem großen See auf dem Gebiet der heutigen Zentralsahara. Diese
ehemaligen Seen wurden von dem deutschen Geologen Professor TIEDIG
und seinem Schüler, dem Libyer Dr. SCHAIJA, entdeckt. In der
Uferzone des ehemaligen Sees fanden sich mächtige Ascheschichten,
die wahrscheinlich von periodisch abgebrannten Schilfpflanzen
stammen, in diesen Ascheschichten finden sich neben Artefakten
auch Muluskenreste, in form kleiner Schneckenhäuser. Auch fanden
sich hier in den Jahren 1994 und 1995 Perlen aus Straußeneischalen.
Die C14 Analyse der Aschen ergab einen C14 Gehalt von unter der
Nachweisgrenze, d.h. älter als 70.000 Jahre. Nachdem 1994 nur
wenige Perlen und Bruchstücke beim Sieben der zerkleinerten Asche
gefunden wurden, fanden sich 1995 mehr als 40 Perlen, zum Teil in
situ, so dass die Zugehörigkeit zu dieser Fundschicht
zweifelsfrei feststeht.
DIAS
Wie man sieht, steht die Perle aufrecht, was darauf hindeutet,
dass eine Perlenkette im seichten Wasser riss und die Perlen in
das weiche Sediment sanken. Da die Einlagerung zur Zeit der Seen
vor etwa 200.000 Jahren stattfand, handelt es sich um den ältesten
bekannten Schmuck der Menschheit. Neben der technikgeschichtlichen
Bedeutung des Fundes, die Herstellung solcher kleinen Perlen ist
auch die kulturhistorische und entwicklungsgeschichtliche
Komponente äußerst bedeutsam, denn Schmuck und Schmuckbedürfnis
bedeutet, dass man sich von anderen Individuen abgrenzen und
unterscheiden will, was ein Selbstbewusstsein der Individuen
voraussetzt.
Der bisher bekannte älteste Schmuck sind Muscheln in Gräbern des
Neandertalers, die vermutlich als Kleiderbesatz dienten und etwa
30.000 Jahre alt sind.
Zum Abschluss möchte ich eine kurze systematische Zusammenfassung
der Möglichkeiten der archäologischen Forschung am Beispiel der
Chemiegeschichte geben:
Aussagemöglichkeiten von Sachquellen im Hinblick auf die
Geschichte der Chemie
In allen Zeiten lässt sich die Chemie in verschiedene Bereiche
einteilen. Zum einen in den Bereich der praktischen Chemie,
hierunter fassen wir die Durchführung chemischer Verfahren im täglichen
Leben des Menschen. Dabei ist es gleichgültig, ob die den
Verfahren zugrunde liegenden chemischen Prinzipien und `GesetzeA
den Ausführenden (oder überhaupt) bekannt sind oder nicht. Zum
anderen die `theoretische ChemieA, früher vor allem in Form von
Mythen und der Naturphilosophie, welche die bei den praktischen
Anwendungen beobachteten Phänomene und Gesetzmäßigkeit zu erklären
versucht, immer im Zusammenhang mit dem weltanschaulichen System
der jeweiligen Kultur. Zum Dritten, der Bereich der Alchemie, bei
dem in einem ganzheitlichen Ansatz sowohl die Materie, der
Chemiker (= Alchemist) sowie der `KosmosA geläutert oder
verbessert werden sollen. Derartige Ansätze entwickeln sich in
der Antike (wohl in Ägypten) und wurden im lateinischen und
arabischen Mittelalter weiter entwickelt, ebenso gibt es eine
alchemistische Tradition in der chinesischen Kultur. In Europa hält
sich die Alchemie bis zur Herausbildung der Chemie als moderne
Naturwissenschaft Ende des 18. Jahrhunderts.
Für den Bereich der praktischen Chemie lassen sich unsere archäologischen
Methoden und Techniken sehr gut anwenden, da wir es hier mit den
Produkten, Abfällen und Spuren der chemischen Prozesse zu tun
haben, mit den üblichen unvermeidbaren Befundreduktionen durch
die mehr oder minder lange Lagerung bis zur Auffindung und
Untersuchung. Auch ethnologische bzw. ethno-archäologische Ansätze
sind in diesem Bereich denkbar.
Für den Bereich der theoretischen Chemie und der Naturphilosophie
lassen sich Sachquellen nicht heranziehen.
Was ein früher Mensch dachte, wenn er ins Feuer blickte, wo das
Holz erst verkohlte, dann zu Asche wurde, wobei Wärme, Licht und
eventuell Rauch entstanden - oder - warum ein Ei, das neben dem
Feuer liegt, hart wurde, werden wir nie wissen.
Auch Bildquellen können für diesen Bereich keine Aussagen
liefern, da uns die jeweilige Ikonographie, mit der die Bilder
damals erstellt wurden, nicht erschließbar ist.
Erst die Erfindung der Schrift erlaubte eine Überlieferung zu
derartigen Sachverhalten, wobei die innere und äußere
Quellenkritik bei diesen historischen Schriftquellen zu beachten
ist, wie in allen anderen Bereichen der (schrift)-historischen
Forschung auch.
Auch ethnologische Forschungen helfen in diesem Bereich der
Chemiegeschichte nicht weiter, da die Vorstellungen heutiger
Kulturen nicht mit denen früherer übereinstimmen müssen,
sondern eher von einer großen Bandbreite von Vorstellungen
ausgegangen werden muss.
Die Alchemie als Mischform von Experimenten und theoretischen
sowie mystisch-magischen Elementen entzieht sich aus den
vorgenannten Gründen ebenfalls einer Erforschung nur aus den
Sachquellen.
Welchen Gebrauch macht die Chemiegeschichtsschreibung von archäologischen
Forschungsergebnissen?
Während meines Nebenfachstudiums (Geschichte der
Naturwissenschaften) untersuchte ich im Rahmen eines Seminars
einige neuere Gesamtdarstellungen der Geschichte der Chemie auch
unter dieser Fragestellung.
Neben Mogelpackungen wie etwa KRÄTZ, 1990, dessen Buch zwar den
Untertitel `7000 Jahre Lehre von Stoffen und VerfahrenA trägt,
das aber mit `Färben in der AntikeA beginnt und somit fast 5000
Jahre eigenen Anspruchs unterschlägt, fanden sich z. B. in einem
Werk von 1991 [SALZBERG], sieben zitierte Titel für den Bereich
der Vorgeschichte, das jüngste aus dem Jahr 1957! Das heißt,
selbst wenn das zitierte Buch auf dem Forschungsstand des Jahres
der Drucklegung sein sollte, dass 34 Jahre archäologischer
Forschung gänzlich unberücksichtigt bleiben. Für die anderen älteren
Epochen sieht es nicht viel besser aus: Antike vierzehn Titel, der
jüngste 1976, Mittelalter zweiundzwanzig Titel, der jüngste
1967.
Zusätzlich ist zu bedenken, dass die angegebenen Werke zumeist
Handbücher und Standardwerke sind, z.B. FORBES, 1955 - 1966,
deren archäologische Quellen zu einem Großteil aus der Zeit vor
dem 2. Weltkrieg stammen. Andere zitierte Werke z.B. LEVEY, 1959,
`Chemistry and Chemical Technology in Ancient MesopotamiaA, sind
methodisch nicht haltbar, da eine Funktionszuweisung ausschließlich
aufgrund von Formähnlichkeiten mit heutigen Geräten erfolgt,
ohne weitere Untermauerung der Aussage wie etwa Grabungsbefunde
oder andere Tatsachen, was dann zu einer Bildunterschrift bei
einem Metallgefäß führt: `Frying pan 3000 B.C.A (Abb. 30, S.
52), nur weil dieses einer heutigen Kasserolle ähnelt. Auch für
dieses Buch gilt, dass die meiste zitierte archäologische
Literatur aus den zwanziger und dreißiger Jahren stammt.
Die Berücksichtigung der außereuropäischen Kulturen ist gering
und beschränkt sich auf China, das arabische Mittelalter sowie
evtl. Indien, da es für diese Hochkulturen in europäische
Sprachen übersetzte Schriftquellen bzw. Monographien zur
Wissenschafts- und Technikgeschichte gibt.
Die Erkenntnisse der Ethnographie zu jüngeren schriftlosen
Kulturen und bei diesen ausgeführten chemischen Verfahren finden
keinen Niederschlag. Ob aus mangelndem Interesse oder Ignoranz,
die das Vorliegen einer `WissenschaftA in diesem Falle leugnet?
Hier böten sich Möglichkeiten für den ethnographischen
Vergleich, obwohl bei der Übertragung auf frühere Zeiten die üblichen
Vorbehalte gelten. s. S. XX
Ein zusätzliches Problem ist, dass die Verfasser zumeist Chemiker
sind, die sich für die Geschichte ihrer Wissenschaft
interessieren, sie jedoch keine Kenntnis von historischer
Forschung haben und deshalb gerne auf historische Untersuchungen
zurückgreifen, die bereits publiziert sind ohne hierbei zu
beachten, dass keine objektiven und unwandelbaren Wahrheiten
mitgeteilt werden - sondern im besten Falle - der augenblickliche
Forschungsstand sowie die Meinungen des jeweiligen Autors.
Sie stehen nicht im Prozess der historischen bzw. archäologischen
Forschung.
Sie können ebenfalls nicht einschätzen, welche Aussagemöglichkeiten
Sachquellen bieten bzw. welchen Gebrauch (Schrift)historiker von
diesen Möglichkeiten gemacht haben.
Ideal wäre es, diese Problemstellungen zur frühen Chemie von
Wissenschaftlern untersuchen zu lassen, die sowohl über
Qualifikationen auf dem Gebiet der archäologischen wie auch
wissenschaft(schrift)historischen Disziplinen verfügen, da - sie
sowohl mit Schrift- wie auch Sachquellen umgehen können, und so für
eine qualitativ hochwertige Forschung stehen.
Der Beitrag der Archäologie für die Erforschung der
Chemiegeschichte in schriftlosen Zeiten und Kulturen:
Für diese Zeiten bilden Sachquellen, d.h. Spuren und Überreste
den einzigen Zugang zu den chemischen Kenntnissen und Anwendungen
der Menschen dieser Epochen.
Rezente und subrezente schriftlose Kulturen sind der
Forschungsgegenstand von Ethnologie, Ethnographie sowie der
Ethnoarchäologie.
Am Beispiel der subrezenten Eisenverhüttung in Afrika lässt sich
die Schwierigkeit der Erforschung chemischer Techniken (hier die
Produktion von Eisen bzw. Stahl) aufzeigen.
Es liegen viele Berichte von Ethnographen über die Produktion von
Eisen im Rennfeuerverfahren aus Afrika vor, es gibt Fotografien
der benutzten Öfen und Herde sowie Filmaufnahmen vom Verhüttungsprozeß.
Trotzdem ist es bisher nicht gelungen, das Verfahren anhand dieser
Quellen nachzuvollziehen, entscheidende Details wurden nicht
beobachtet bzw. dokumentiert, Proben nicht genommen. Heute ist
diese Tradition verloren.
Daher müssen archäologische Ausgrabungen unternommen werden um
die fehlenden Erkenntnisse zu gewinnen. Das Problem hierbei ist,
dass wir nur die Abfälle des Prozesses, d.h. vor allem Schlacken,
auffinden können.
Normalerweise sind die Öfen aufgebrochen, und da aus örtlichem
Material (Lehm) bestehend, außer in hartgebrannten unterirdischen
Teilen, zerfallen. Das Eisen wurde als gewünschtes Produkt weiter
verarbeitet und die Fertigprodukte vom Ort entfernt. Die
Ausgangsmaterialien im Prozess verbraucht bzw. später verwandt,
oder sind an der Erdoberfläche nicht erhalten geblieben.
Dieselben Faktoren gelten natürlich ebenso außerhalb Afrikas,
weshalb auch hier die Schwierigkeit besteht, den Rennfeuerprozeß
der Eisenzeit in Europa aus den Überresten zu rekonstruieren. Als
Ausweg bieten sich zwei Möglichkeiten, zum einen durch dynamische
Experimente zu einem Erfolg zu gelangen, wozu allerdings große
Serien von Experimenten nötig sein werden, die sich vermutlich
nicht finanzieren lassen, zum anderen die Untersuchung von
Fundstellen, in denen der Rennfeuerprozeß in situ konserviert
ist.
Die Methode des dynamischen Experiments entwickelte unser geehrter
Jubilar (Herr Professor Helmut Ziegert) anlässlich der
Erforschung eines bis dato unbekannten technischen Prozesses, nämlich
der Produktion von Kochsalz aus salzhaltigem Sediment mit Hilfe
von Feuer.
Da der Jubilar in der Zentralsahara in den 1960er Jahren natürlich
keinen Zugang zu einer wissenschaftlichen Fachbibliothek hatte,
musste er einen anderen Weg zur Erkenntnis beschreiten: Durch
Serien von Experimenten, bei denen jeweils ein Parameter geändert
wurde, konnte der Jubilar den Prozess nachvollziehen, nachdem er
ein Modell des Prozesses aus der Analyse der Grabungsbefunde
erstellt hatte. Durch Vergleich der Versuchsergebnisse mit den
gefundenen Schlacken konnten die Ergebnisse überprüft werden,
bis am Ende genießbares Speisesalz hergestellt wurde. Später
konnte der Jubilar nachweisen, dass dieses Verfahren auch in Ägypten
angewendet und wahrscheinlich dort entwickelt worden war.
Professor HELMUT ZIEGERT, Der Anschnitt: Salzverhüttung
Der Beitrag der Archäologie für die Erforschung der
Chemiegeschichte in historischen Zeiten und Kulturen:
Mit zunehmenden zeitlichen Abstand sinkt die Zahl der noch
vorhandenen Schriftquellen, steigern sich die Probleme bei ihrer
Auswertung und anschließender Interpretation zur Beantwortung
historischer Fragestellungen.
Als Beispiel sei hier ein Keilschrifttext mit chemischen Rezepten
genannt, deren beide mir bekannte Übersetzungen in die deutsche
Sprache hinsichtlich der beschriebenen Verfahrenstechnik stark
unterschiedlich sind, [ZIMMERN, 1925: 185 ] / [DARMSTAEDTER 1927:
80] oder eine Anleitung zum Bau eines Schmelz- bzw. Brennofens,
von der mir zwei Übersetzungen ins deutsche sowie eine ins
englische bekannt sind, diese sich ebenfalls stark unterscheiden.
[ELIADE, 1960: 87][1] / [ZIMMERN, 1925: 183] / [OPPENHEIM, 1970:
32-33]
Die Identifizierung bestimmter Wörter oder Zeichen als Terminus
Technicus bzw. als bestimmten eingesetzten Rohstoffen und deren
genaue chemische Zusammensetzung ist unsicher und nur durch
Analysen an Fundmaterial und/oder Experimente nachvollziehbar.
Aus dem antiken Griechenland sind uns zahlreiche schriftliche
Quellen zur Naturphilosophie überliefert mit ersten chemischen
Theorien, beispielhaft sei hier auf die aristotelische
Vier-Elementen-Lehre und, hieraus abgeleitet, die Zusammensetzung
bzw. Entstehung von Mineralien und Metallen [ARISTOTELES,
Meteorologica III, 6,378 a12-b4 z.B. in der deutschen Übersetzung
von STROHM, 1970: 89-90]
Bei den dort gemachten Ausführungen muss man bedenken, dass es
sich hier um Ableitungen aus dem philosophischen System des
Aristoteles, nämlich seiner Vier-Elementen-Lehre, handelt und wir
von den Praktikern dieser Zeit (Schmelzer, Handwerker) keine
schriftlichen Überlieferungen haben, so dass über deren eigenen
theoretischen Ansätzen keinerlei Aussagen möglich sind, denn
diese müssen mit denen der Philosophen nicht überein gestimmt
haben.
Auch die Schriftquellen in jüngeren Zeiten lassen viele Fragen
offen. Sei es im Hinblick auf eingesetzte Stoffe, Geräte, aber
auch Verfahren, sei es, dass die Verfasser die uns fehlenden
Angaben für trivial hielten, oder sie als Werkstattgeheimnisse
oder anderes Geheimwissen nur mündlich weitergaben und nicht
durch schriftliche Aufzeichnungen profanisieren oder weiter
verbreiten wollten.
Für Zeiten, in denen mehr und aussagekräftigere Schriftquellen
und auswertbare Bildquellen, z.B. Abbildungen von Geräten oder
ganzen Laboratorien vorliegen, kann die Archäologie wichtige
Beiträge leisten.
So stellt sie durch Ausgrabung Muster und Proben von Laborgeräten,
Materialien, Fertigprodukten und Produktionsabfällen für
Untersuchungen zur Verfügung. Auf diese Weise wird die Möglichkeit
eröffnet, die schriftliche Überlieferung, z.B. von Rezepten,
unabhängig zu überprüfen.
Angaben, die in den Schriftquellen fehlen oder unklar sind, können
ergänzt bzw. überprüft werden, z.B. die Beschaffenheit von Geräten
nach Material, Form, Abmessungen und Wandstärken. Die
Einwirkungen auf die Geräte, z.B. Verfärbungen und Strukturänderungen
durch Hitzeeinwirkung können untersucht und so evtl. Rückschlüsse
auf die Stärke und Dauer von Temperatureinwirkungen gewonnen
werden. Vor der Entwicklung bzw. Verbreitung zuverlässiger
Temperatur- und Zeitmeßverfahren sind die Angaben zu diesen Prozeßparametern
sehr vage gehalten, wie z.B. `in starkem FeuerA bzw. `gelinde WärmeA,
je nach Art des Brennstoffes, seines Wassergehaltes (bei Hölzern),
Bauart des Ofens und evtl. zusätzlicher Belüftung durch Blasebälge,
wird auch ein `starkes FeuerA in Durchschnitts- und
Spitzentemperatur stark variieren können. Auch gleichmäßige
oder einseitige Erhitzung von Reaktionsgefäßen lässt sich evtl.
nachweisen.
Durch Untersuchung von Rohmaterialien sowie Reaktionsrückständen
in oder an Gefäßen lassen sich Aussagen zur Reinheit und evtl.
zur Herkunft der verwendeten Chemikalien machen, aus den
Reaktionsrückständen lassen sich evtl. die Prozeßparameter
ermitteln.
Die räumlichen Strukturen von Laboratorien oder Produktionsstätten
sowie Aussagen zur Verzahnung mit anderen Lebensbereichen und zur
Auswirkung der angewendeten Prozesse auf Mensch und Umwelt dieser
Orte und Zeiten können durch Ausgrabungen und die Gewinnung
entsprechender Proben untersucht werden.
Sind z.B. Grablegungen von Fürsten bekannt, die der Alchemie gefrönt
haben, wäre eine Analyse des Grabinhaltes auf in Knochen oder
Haaren gespeicherte chemische Elemente oder Verbindungen
interessant. Gleiches gilt für einfache Friedhöfe in der Nähe
früher Chemieproduktionen wie etwa Bergbaugebiete oder städtischer
Handwerkerschaft der verschiedenen Gewerke. In großem Maßstab
betriebener Bergbau auf Metalle und deren Verhüttung lässt sich
in der Umwelt sogar weiträumig nachweisen.
So hinterließ der mittelalterliche und spätere Bergbau im Harz
seine Spuren in den Ortlehmen der entwässernden Flüsse in Form
steigender Metallgehalte, wobei sich drei Phasen unterscheiden
lassen. So könnten diese Lehme auch zur Datierung verwendet
werden. Ähnliches sollte für andere Gebiete oder chemische
Produktionen möglich sein. [ORTLAMM?]
Ein Beispiel für die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Archäologie
und Naturwissenschaftsgeschichte mag die Ausgrabung einer Grube
mit einer dort deponierten Laborausrüstung eines alchemistischen
oder auch metallurgischen Laboratoriums im Niederösterreichischen
Gut Oberstockstall durch SIGRID VON OSTEN dienen [von OSTEN, 1992,
1998]. Hier wurde eine große Anzahl Laborgerätschaften aus
Keramik, vor allem Tiegel sowie Glas geborgen, die zum überwiegenden
Teil in Gebrauch gewesen waren und noch Anhaftungen und
Schlackenreste enthielten. Außerdem erlaubten sie einen Vergleich
von Originalen[2] mit den Abbildungen und Beschreibungen der
zeitgenössischen Literatur, die sich als durchaus zuverlässig
erwiesen. Außerdem scheint es sich um die Auflösung und `EntsorgungA
eines im Betrieb gewesenen oder kurz zuvor stillgelegten
Laboratoriums zu handeln, so dass von einem geschlossenen Fund
auszugehen ist, was bei einzelnen überlieferten Gerätschaften
oder gar nur deren Bruchstücken nicht der Fall ist.
Durch Auswertung der noch vorhandenen Archivalien und der
Schriftquellen konnten weitere Einzelheiten erschlossen werden. Im
Zusammenhang hiermit stehen die Bohrsondierungen, die der Autor
zusammen mit Frau VON OSTEN sowie Herrn Professor JOST WEYER
unterhalb des ehemaligen Laboratoriums im Schloss Weikersheim
durchgeführt hat [von OSTEN / SIEBERS / WEYER, 1994]. Nachdem
Professor WEYER in den Jahren zuvor die alchemistischen Neigungen
des Grafen Wolfgang II. von Hohenlohe (1546-1610) aufgrund des
erhaltenen Archivmaterials schrifthistorisch erforscht hatte [WEYER,
1992], sollte mit diesen Bohrungen ein Modell überprüft werden,
welches wir aus den Ergebnissen der schrifthistorischen Forschung
entwickelt hatten: Das (heute nicht mehr vorhandene) Laborgebäude
Schloss unmittelbar mit der Burgmauer ab, so dass es durchaus möglich
erschien, das zerbrochene oder unbrauchbar gewordene Geräte sowie
Laborabfälle im Burggraben `entsorgtA worden waren. Außerdem war
es möglich, dass beim Abbruch des Labors Bauschutt ebenfalls in
den Graben gelangt sein konnte.
Bei eindeutigeren Befunden bzw. einfacheren Grabungsverhältnissen
(der Burggraben wird von der nahen Tauber häufiger überflutet) hätten
so durch Ausgrabungen und methodischer Bearbeitung der Funde und
Befunde die aus den Schriftquellen ermittelten
Forschungsergebnisse überprüft bzw. neue Erkenntnisse gewonnen
werden können. Wichtig ist hierbei eine saubere Trennung der
Quellengattungen und ihrer jeweiligen methodischen Bearbeitung,
d.h. zuerst Aussagen hinsichtlich der anfänglichen
Fragestellungen aus jeder Quellengattung allein zu machen und erst
dann im nachhinein die Ergebnisse aus den unterschiedlichen
Quellengattungen miteinander zu vergleichen und Widersprüche
sowie Bestätigungen festzustellen. Nur durch diese, auch den
Naturwissenschaftlern geläufige Arbeitsweise: Fragestellung,
Modell- bzw. Hypothesenbildung anhand von Theorien oder Vorwissen
und anschließender Tests, z.B. durch Experimente oder anhand von
Grabungsergebnissen, sodann eine Synthese aller Ergebnisse und die
Formulierung von Antworten auf die Ausgangsfragestellungen. Nur so
lässt sich über ein eher spekulatives `so stelle ich es mir vor
/ so könnte es gewesen seinA hinauskommen bzw. Überinterpretationen
von Quellen vermeiden.
Ausblick
Nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Beantwortung
neuer und ungelöster wissenschaftsgeschichtlicher Fragestellungen
können über den Kanon des publizierten Wissens hinaus neue
Ergebnisse erzielt werden.
Das Zitieren aus älteren Werken vermehrt nicht unser Wissen,
sondern ist nur wie `alten Wein in neue Schläuche zu gießenA,
wovon dieser nicht besser wird.
Neue Antworten entstehend nur aus neuen Fragen oder aus alten
Fragen, die sich mit Hilfe der modernen wissenschaftlichen
Methodik und Technik endlich beantworten lassen.
Dazu müssen sich die Forscher der einzelnen Disziplinen jedoch
zusammen finden, denn in diesem Fall ist das Ganze mehr, als die
Summe seiner Teile.
LITERATUR:
BOSE, D. M. /
SEN, S. N. / SUBBARAYAPPA, B. V.
1971
A Concise History of Science in India
Neu Delhi
BROCK, William Hodson
1992
The Fontana History of Chemistry
London
DARMSTAEDTER, Ernst
1927
Assyrische chemisch-technische Vorschriften und ihre Erklärung
IN:
Archiv für Geschichte der Mathematik, der Naturwissenschaften und
der Technik
NF 1 (1927/28), S. 72-86
(= Archiv für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik
10 (1928)
ELIADE, Mircea
1960
Schmiede und Alchemisten
Stuttgart
FEUSTEL, Rudolf
1973
Technik der Steinzeit
Weimar
FORBES, Robert James
1955-1966
Studies in ancient technology
9 Bände, Leiden
HUDSON, John
1992
The History of Chemistry
Basingstroke / London
KRÄTZ, Otto
1990
Faszination Chemie. 7000 Jahre Lehre von
Stoffen und Verfahren
München
LEVEY, Martin
1959
Chemistry and Chemical Technology in Ancient Mesopotamia
Amsterdam et. al.
OPPENHEIM, A. Leo u.a.
1970
Glass and Glassmaking in Ancient Mesopotamia . An Edition of the
Cuneiform Texts
Which Contain Instructions for Glassmakers With a Catalogue of
Surviving Objects
New York
von OSTEN, Sigrid
1992
Das Alchemistenlaboratorium Oberstockstall. Ein Fundkomplex des
16. Jahrhunderts aus Niederösterreich, Dissertation (Masch.
schr.),
Wien
von OSTEN, Sigrid / SIEBERS, Dirk / WEYER, Jost
1994
Probebohrungen im Burggraben von Schloss Weikersheim,
Main-Tauber-Kreis
IN:
Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 1994,
S. 359-61
von OSTEN, Sigrid, CICHOKI, Otto
1998
Das Alchemistenlaboratorium Oberstockstall. Ein Fundkomplex des
16. Jahrhunderts aus Niederösterreich
Innsbruck [H1998/1] [222/Ost] Sukopp???
SALZBERG, Hugh W.
1991
From Caveman to Chemist.
Circumstances and Achievements
Washington , DC
SREJOVIC, Dragoslav
19735
Lepenski Vir. Eine vorgeschichtliche Geburtsstätte europäischer
Kultur. Erweiterte Ausgabe mit einem revidierten und erweiterten
Originalbeitrag von Hans Quitta
Bergisch-Gladbach
SCHMAND-BESSERAT, Denise
1980
Orcher in Prehistory: 300.000 Years
of the Use of Iron Ores as Pigments
IN: WERTIME / MUHLY (eds.), Coming of the Age of Iron
STROHM, H. (Übersetzer)
1970
(ARISTOTELES *384 ^322) Meteorologie. Über die Welt.
Darmstadt
STRUBE, Irene / STOLZ, Rüdiger / REMANE, Horst
1986
Geschichte der Chemie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart
Berlin
STRUBE, Wilhelm
19895
Der historische Weg der Chemie. Von der Urzeit bis zur
wissenschaftlich-technischen Revolution
Köln (1. Aufl. in 2 Bde. Leipzig, 1976, 1981)
WERTIME, Theodore A. / MUHLY, James D. (eds.)
1980
The Coming of the Age of Iron
New Haven / London
WEYER, Jost
1992
Graf Wolfgang II. von Hohenlohe und die Alchemie. Alchemistische
Studien in Schloss Weikersheim 1587-1610. Forsch. Württ. Franken.
Bd. 39
Sigmaringen
ZIMMERN, H.
1925
Assyrische chemisch-technische Rezepte, insbesondere für
Herstellung farbig glasierter Ziegel, in Umschrift und Übersetzung.
IN:
Zeitschrift für Assyriologie und verwandte Gebiete NF 2 (=XXXVI
S. 177 . 208
--------------------------------------------------------------------------------
[1]Hinweis auf Übersetzungsanmerkung E. !
[2]Die in den Museen und Sammlungen ausgestellten
'alchemistischen' Geräte stammen
zum größten Teil aus Apothekeninventaren des 19. Jahrhunderts.
Nachweislich ältere
vollständige Stücke aus Laboratorien sind meines Wissens nicht
sicher nachgewiesen.